Seit fast 2 Jahren besuche ich Herrn L. in einer Berliner Seniorenresidenz. Immer montags, pünktlich, um 15 Uhr, klopfe ich recht laut an seine Zimmertür. Herr L. ist stark schwerhörig und besitzt trotz der Hörgeräte nur noch 45 % seiner Hörstärke. Er empfängt mich gut gelaunt, ausgeschlafen nach der Mittagsruhe, rasiert und im sauberen Hemd in seinem Rollstuhl. Auch seine Mobilität ist stark eingeschränkt. So kann man von Glück sprechen, dass er seinen schönen, dunkelblauen Mercedes nicht abschaffte, der nun immer startklar vor der Tür der Einrichtung parkt.
Wir beraten, was heute dringend erledigt werden müsste bzw. was er gerne unternehmen möchte. Im Sommer, wenn es warm und länger hell ist, sind wir öfters in das schöne Umland Berlins gefahren und
haben „Landpartien“ ins Havelland gemacht oder haben per Rollstuhl den Kiez erkundigt. Charlottenburg-Westend hat als ehemaliges Promi-Wohnviertel viele Gedenktafeln zu bieten. Alle haben sie
dort gewohnt, von Heinz Rühmann, über Lilli Palmer bis Marlene Dietrich sowie Bernd Rosemeyer, dem großen Rennfahrer. „Uta, Du bist gedenktafelsüchtig“, zieht mich Herr L. immer auf. Aber wenn
wir dann mit dem Rollstuhl vor dem Haus stehen und die Tafel lesen, und ich ihm aus dem Leben der Person erzähle, die hier durch das Gartentürchen geschlüpft ist, dann freut sich Herr L. und
murmelt immer nur: „Das ist je echt ein Ding. Das habe ich nicht gewusst!“
Jetzt, im Winter, ist der Radius etwas eingeschränkt. Die Fahrten per Rollstuhl sind auf das Notwendigste zusammengeschrumpft, denn Herr L. ist eitel. Obwohl er schnell friert, verweigert er im
Winter eine Decke, die ich ihm über die Knie legen wollte. „Dann sehe ich ja aus, wie behindert“ – schimpfte er. Dafür habe ich natürlich Verständnis. Die Alternative bei Minusgraden ist dann
Scrabblespielen im Foyer, wo er mich jedes Mal ziemlich knapp schlägt, was ihn diebisch freut, denn „blöd im Kopf, ist er noch nicht“ – wie er dann immer gerne betont.
Also putze ich diesmal wieder seine Brille, wechsle bei Bedarf die Batterien der Hörgeräte, lade sein Handy auf, während wir unterwegs sind und ziehe ihm vorsichtig Pullover, Jacke, Schal, Mütze
und die warmen Skihandschuhe an. Dann flitzen wir an der Wohnbereichsleitung vorbei, um uns ordnungsgemäß abzumelden, schweben mit dem Fahrstuhl nach unten, winken fröhlich der Dame an der
Rezeption zu und rumpeln mit dem Rollstuhl zum Auto, denn das Westender Pflaster hat es in sich. Unser Ziel ist heute der weihnachtlich geschmückte Kurfürstendamm. Wir machen eine
Lichterfahrt!
Innerhalb von 10 Minuten befinden wir uns in Halensee, am nördlichen Ende des Ku-damms und fahren langsam im abendlichen Berufsverkehr Richtung Süden. Dabei diskutieren wir lautstark über Sinn
und Unsinn des weihnachtlichen Lichterschmucks. Auf der einen Seite die elende Energieverschwendung und auf der anderen Seite ist es einfach nur schön anzusehen. Hat man nicht Sehnsucht in der
dunklen Zeit nach Lichterglanz und Wärme oder stehen da an der noblen, teuren Einkaufsstraße der City-West nicht ganz andere kommerzielle Beweggründe dahinter? Schon bei dem Anblick der ersten
großen, überdimensionalen, erleuchteten Teddybären, Schnee- und Weihnachtsmänner beschleicht uns ein ungutes Gefühl. Wir sind jedoch wild entschlossen, uns die kindliche Freude an diesen
leuchtenden Szenen wie aus einem Malbuch für Riesenkinder nicht verderben zu lassen und bestaunen, die im Schritttempo an uns vorbeiziehenden Renntierschlitten, Flugzeuge, Lokomotiven, welche
beladen mit großen Geschenkeschachteln rechts und links oder auf dem Mittelstreifen des Boulevards stehen. Über uns in den kahlen Ästen hängen tausende von gelben Glühbirnchen und der
Weihnachtsmarkt, rund um die Gedächtniskirche, glitzert und funkelt. Die eingebildeten Düfte von Glühwein, gebrannten Mandeln, Fetzen von „Jingle bells“ wehen herein.
Nun passieren wir das KaDeWe. Das größte und teuerste Kaufhaus Berlins hat nach den Umbauten wieder die halbrund, abschließenden Fenster aus der Vorkriegszeit zurückerhalten, und es ist berühmt
für seinen weihnachtlichen Schaufensterschmuck. Herr L. ist entzückt. So hat er die Fassade des Kaufhauses als Kind noch kennen gelernt. Wenn bloß, diese blöden großen Doppeldeckerbusse nicht
immer die komplette Sicht versperren würden!
Hinter dem U-Bahnhof Wittenbergplatz, der auf der Mittelinsel wie ein hell erleuchtetes Schlösschen aussieht, dass sich für einen festlichen Ball schmückt, machen wir eine scharfe Wende und
fahren langsam den Ku-damm zurück, denn eine Überraschung habe ich noch parat. Wir nähern uns Ecke Schlüterstraße. Dort steht ein Segelschiff, ein Zweimaster, mit 5 Segeln und Fähnchen an den
Mastspitzen, die unvermeidbaren Geschenke mit großen Schleifen an Bord. Ich frohlocke innerlich. Was wird Herr L. sagen, der früher leidenschaftlicher Segler war, wenn ich ihm dieses Prachtstück
präsentiere?
Der Kommentar kommt prompt: „Mensch Uta, sind die blöd. Guck’ mal! Segel und Fähnchen flattern in unterschiedliche Richtungen.“ Schweigen im Auto. Segler und Diplom-Ingenieur in der Person des
Herrn L. lassen sich diesen blöden Kinderkram nicht bieten. Ich habe es gewusst. Die Stimmung, der ganze weihnachtliche Budenzauber sind zusammengebrochen. Also entscheiden wir uns doch für
kommerziellen Kitsch? Ich bin enttäuscht und fahre zügig zur Einrichtung zurück. Angekommen in seinem Zimmer, helfe ich ihm beim Ausziehen und wir verabschieden uns mit einem angedeuteten
Küsschen rechts und links auf die Wange – so wie die Promis das immer machen. Dabei sagt Herr L. mit kleiner Träne in den Augen: „Das war ein wunderschöner Ausflug. Danke - und am schönsten war
das Segelboot.“
Gastbeitrag von:
Dr. Uta Schnell
Kunsthistorikerin, Seniorenassistentin
Berlin (Bezirk Steglitz-Zehlendorf)
www.seniorenassistenz-schnell.de