Es ist Ende August und brütend heiß in Berlin. Wie üblich besuche ich montags Herrn L. und klopfe, mit einer Ausflugsidee im Kopf, an seine Tür. Selbstverständlich hege ich Bedenken. Kann man einem Senior bei dieser Hitze zumuten, unterwegs zu sein? Wäre nicht eine gemütliche Plauderstunde, mit einem kühlen Getränk, auf der schattigen Terrasse der Einrichtung viel angebrachter? Aber Herr L. besitzt heute einen ungebremsten Tatendrang. Er will unbedingt raus. Er kann seine Seniorenresidenz nicht mehr sehen und entwickelt ausführliche Fluchtfantasien. Ich kann ihm, nach Aufzählung der wichtigsten Argumente, die seiner Meinung nach für einen Ausflug sprechen, eine Landpartie im klimatisierten Mercedes nicht abschlagen. Eine Kopfbedeckung wird herausgekramt, das Gesicht von Herrn L. mit Sonnenschutzmittel gut eingecremt, Wasser hatte ich bereits zu Hause in den Rucksack gepackt.
In kürzester Zeit sind wir auf der Heerstraße und fahren über Staaken, wo wir jedes Mal aufs neue rätseln, wo denn hier eigentlich genau der ehemalige Grenzübergang war. Dann düsen wir über die B5, an Ribbeck vorbei, Richtung Nauen. Unterwegs gibt es ein großes „Hallo“ im Auto, wenn die vielen Windräder des Nauener Windparks auftauchen. Der Diplomingenieur L. entwickelt die tollsten Theorien über Funktion und Effizienz dieser Räder, Vor- und Nachteile der Technik für Mensch und Umwelt. Herr L. ist gebildet. Das, was er vor über 50 Jahren studiert hatte, ist noch parat, schließlich hat er später in ganz Europa Anlagen gebaut und verkauft, und er liest immer noch jeden Tag eine seriöse Berliner Tageszeitung. Es bereitet auch mir großes Vergnügen, mit ihm diese technischen Fachgespräche zu führen!
Ab Friesack fahren wir, eine uns unbekannte, neue Strecke, durch das liebliche Havelland Richtung Rhinow. Unser Ziel ist Stölln im Rhinower Ländchen – genauer gesagt der Gollenberg, wo der Flugpionier Otto Lilienthal seine Flugversuche machte und im Jahre 1896 tödlich verunglückte. Wenn man so will, befinden wir uns dort auf dem ältesten Flugplatz der Welt. Natürlich habe ich wieder eine Überraschung für Herrn L. bereit.
Nachdem wir hinter Neuwerder ein kleines Wäldchen durchquert hatten und Licht- und Schattenflecken abwechselnd in unser wohl temperiertes Auto huschten, wurde ich langsamer und bog langsam links ab, um am Fuße des langgestreckten, heute bewaldeten Gollenberges zum Stillstand zu kommen. Herr L., der unterwegs schon etwas ungeduldig geworden war, staunte nicht schlecht. Unterhalb der Hügelkette, steht auf freiem Feld eine Iljuschin IL-62, ein ausgemustertes Passagierflugzeug der Interflug der DDR, die „Lady Agnes“. Sie wurde kurz vor der Wende 1989 vom verwegenen Verkehrspiloten Heinz-Dieter Kallenbach auf dem nur 860 m kurzen Segelflugplatz ohne Zwischenfälle einwandfrei gelandet. Diese verwegene Aktion kam ins Guinnessbuch der Rekorde und wurde von uns später per YouTube verfolgt. Ein echtes Meisterstück! Herr L. war begeistert, war er doch früher oft mit der Iljuschin IL-62 als Passagier nach Kiew geflogen. Er konnte sich noch ganz genau an den Aufbau der Sitzreihen und an andere Details erinnern. Inzwischen ist das Flugzeug ein Museum. Man kann sich an Bord das Ja-Wort geben und rundherum gibt es hübsche Blumenanlagen und Gastronomie.
Zu unserer großen Enttäuschung war natürlich montags alles geschlossen. Unser Mercedes stand alleine auf dem inzwischen angelegten Parkplatz und wir mussten per Rollstuhl über den Acker holpern, um möglichst dicht an das Flugzeug heranzukommen. Dass das Flugzeug geschlossen hatte, schien ihn nicht zu stören, denn körperlich hätte er es nicht geschafft, die steile Gangway hinauf ins Flugzeug zu klettern. Im Schatten einer Tragfläche machten wir Pause. Herr L. plauderte fröhlich mit Schweißperlen auf der Stirn. Die Hitze schien im nichts auszumachen, und ich setzte mich neben ihn erschöpft auf die Wiese, um das Wasser aus dem Rucksack zu holen. Plötzlich schoss auch mir vor Schrecken der Schweiß in alle Poren. Ich hatte das Wasser zu Hause auf dem Küchentisch stehen gelassen. Eine unverzeihliche Gedankenlosigkeit meinerseits, bin ich doch verantwortlich für meinen Senior, und er verlässt sich in allem auf mich. Was für eine Schande!
Doch in der Situation größter Angst und Not schärfen sich die Sinne und während Herr L. von seinen Flügen mit der IL-62 im Jahre 1976 erzählte, hörte ich hinter dem Gasthaus „Zum 1. Flieger“ einen Gartenschlauch plätschern. Ich parkte Herrn L. mit dem Rollstuhl im schattigen Biergarten vor dem Restaurant und schlich vorsichtig um das Haus herum, wo ein Herr in Badehose und Feinrippunterhemd den Rasen sprengte. Da ich über 50 Jahre lang – egal in welchem Teil Deutschlands unterwegs – sehr schlechte Erfahrungen mit Wirten, Kellnern, besonders in Ausflugslokalen gemacht hatte, um nicht zu sagen, dass ich schwer traumatisiert diesbezüglich bin, fragte ich diesmal besonders höflich und freundlich nach einem Glas Gartenschlauchwasser, erwähnte auch, dass mir wohl bewusst sei, dass er heute geschlossen habe und ließ ganz nebenbei die Worte Senior – Rollstuhl – verdursten - ich Trottel ! usw. fallen. Als ich ihm dann außerdem anbot, das Wasser zu bezahlen, war die Geduld des Mannes vorbei. Seelenruhig drehte er das Wasser ab und legte den Schlauch beiseite:
„Nun bleibn Se mal janz locker, junge Frau. Für Senioren hab ick doch imma een großes Herz. Kommen Se mal rinn in die jute Stube. Watt wolln Se denn haben? Großes oda kleenes Glas, mit Sprudel oda ohne? Eiswürfel? So weit kommst noch, dat wa hier die Senioren vadursten lassen. Und dat an so enem schönen Tag wie heute...!“
Ich war völlig perplex. Mein Geldangebot wurde vom Wirt vehement ausgeschlagen. Glücklich saßen wir im frisch gesprengten Biergarten, im kühlen Schatten der alten knorrigen Obstbäume mit Blick auf das schöne Flugzeug, debattierten, wie schwer es wohl gewesen sei, es hier auf dem Acker zu landen und genossen das köstliche große, eisgekühlte Glas Wasser mit viel Sprudel – etwas, was es in der Seniorenresidenz nie gibt.
Auf der Rückfahrt stakten in der Abendsonne die vielen havelländischen Störche über die abgeernteten Stoppelfelder und mit viel Verspätung kamen wir zum Abendbrot in die Seniorenresidenz. Unterwegs träumte Herr L. von den hübschen, russischen Stewardessen, die ihm den Krimsekt servierten und ich schwor mir, nie wieder Vorurteile gegen Wirte zu haben!
Gastbeitrag von:
Dr. Uta Schnell
Kunsthistorikerin, Seniorenassistentin
Berlin (Bezirk Steglitz-Zehlendorf)
www.seniorenassistenz-schnell.de