Thomas Bartel und weitere Senioren-Assistenten aus ihrer Praxis in der Seniorenbetreuung.
Mein Senior, Herr L., ist kürzlich gestorben. Ich habe ihn jahrelang - immer montags - besucht. Wir machten gemeinsam mit seinem Mercedes wunderbare Ausflüge in die Mark Brandenburg und Spritztouren durch alle Stadtteile Berlins. Er ist über 90 Jahre alt geworden und lag im letzten Jahr dement im Bett einer Pflegeeinrichtung in Westend, musste gewindelt werden, erkannte mich nicht mehr und schlief viel, stellte langsam die Nahrungsaufnahme ein.
Seit zwei Jahren leistet mir ein Kaffeepott mit dem Aufdruck „Senioren-Assistenz – Plöner Modell“ (ein Geschenk von Ute Büchmann) exzellente Dienste - allerdings in völlig abgewandelter Form. Und das kam so:
Eine von mir betreute Seniorin liebt Eiscreme über alles. Da es in einer für sie erreichbaren Nähe kein Eiscafé gibt, bringe ich ihr die geliebte Köstlichkeit regelmäßig von einem Italiener mit. Als „cooler Transportbehälter“ dient mir der Senioren-Assistenz-Becher.
Ich stelle ihn zuvor für zwei, drei Stunden ins Eisfach und nehme ihn dann in der perfekt isolierenden Styropor-Umverpackung zur Eisdiele mit. Dort kennt man mich schon: "Eine Kugel Schoko, eine Kugel Vanille. Und den Löffel bitte extra". Dann wieder in die Umverpackung mit dem Pott und ab zu meiner "Eis-Prinzessin". Die freut sich jedes Mal riesig und erzählt mir dann aus ihren Kindertagen, wie sie regelmäßig nach der Schule das auf dem Heimweg liegende Eiscafé mit ihren Klassenkameradinnen stürmte, um dort zwei Kugeln Eis zu schlecken: natürlich in den Sorten Schokolade und Vanille.
Dieser Winter ist lang und grau. Die Temperaturen um Null Grad oder sogar Dauerfrost verleiten nicht dazu, die warme Seniorenresidenz zu verlassen. Leider kann man nicht an jedem Montag Scrabble spielen, so dass ich Herrn L. mit etwas List und Tücke dazu überreden konnte, mir aus seinem langen und erlebnisreichen Leben zu erzählen. Meist bekomme ich dann immer zu hören: „Ach, was soll ich schon erzählen? Ich habe eh alles vergessen und nichts Wichtiges erlebt!“ Es ist für die meisten Senioren schwer zu begreifen, dass gerade die kleinen Dinge des Alltages aus längst vergangener Zeit für uns so spannend und interessant sind. Natürlich hat Herr L. keine Weltpolitik bestritten, aber er hat ungewollt an ihr teilgenommen und eine Kindheit im 2. Weltkrieg im zerbombten Berlin oder in verschiedenen Kinderlandverschickungslagern in Polen und Bayern überlebt.
Es ist Ende August und brütend heiß in Berlin. Wie üblich besuche ich montags Herrn L. und klopfe, mit einer Ausflugsidee im Kopf, an seine Tür. Selbstverständlich hege ich Bedenken. Kann man einem Senior bei dieser Hitze zumuten, unterwegs zu sein? Wäre nicht eine gemütliche Plauderstunde, mit einem kühlen Getränk, auf der schattigen Terrasse der Einrichtung viel angebrachter? Aber Herr L. besitzt heute einen ungebremsten Tatendrang. Er will unbedingt raus. Er kann seine Seniorenresidenz nicht mehr sehen und entwickelt ausführliche Fluchtfantasien. Ich kann ihm, nach Aufzählung der wichtigsten Argumente, die seiner Meinung nach für einen Ausflug sprechen, eine Landpartie im klimatisierten Mercedes nicht abschlagen. Eine Kopfbedeckung wird herausgekramt, das Gesicht von Herrn L. mit Sonnenschutzmittel gut eingecremt, Wasser hatte ich bereits zu Hause in den Rucksack gepackt.
Herr L. kann aus verschiedenen Gründen nicht mehr selbst Auto fahren. Trotzdem steht, immer startklar, sein blaues Auto, eine Marke der Luxusklasse, vor der Tür der Senioreneinrichtung. Das Auto wird immer - ihm zu Liebe - so geparkt, dass er es vom Fenster aus jederzeit sehen kann!
Der Altweibersommer ist vorbei und es beginnt die nass-kalte Indoor-Zeit für die Seniorenbetreuung. Herr L. mag keine Kartenspiele, hat unerklärliche Blackouts bei dem wunderbaren Spiel „Stadt-Land-Fluss“ und langweilt sich zu Tode beim „Mensch-Ärger-Dich –Nicht“ oder sonstigen Würfelspielen. Stattdessen steigert er sich zu absoluten Höchstleistungen beim Monopolispielen, wo er den gnadenlosen Kapitalisten gibt oder aber beim Scrabblen, das ihn zu einem gewieften Taktierer und einem phantasievollen Worteerfinder werden lässt!
Unter diesem Motto trafen sich in einer alten Villa im Stuttgarter Süden knapp 20 Seniorenassistenten nach dem „Plöner Modell“ aus dem Großraum Stuttgart.
Seniorenassistenten sind Lebensbegleiter der besonderen Art, die als Hausdame oder Hausherr die frühere Gesellschafterin alter Schule in moderner Form wiederaufleben lassen. Sie unterstützen oder begleiten ältere Personen auf Augenhöhe bei Behördengängen, Arztbesuchen und Kulturveranstaltungen oder unterhalten, beraten bzw. diskutieren mit Senioren und gestalten deren Tagesablauf mit. Sie nehmen sich Zeit, um bei Verhinderung oder fehlenden Angehörigen tatkräftig einzuspringen.
... eine Senioren-Landpartie zu den Borsigs nach Groß Behnitz im Havelland
Herr L., seines Zeichens Senior, Diplom-Ingenieur und ehem. Segler besitz einen wunderbaren blauen Mercedes C 180 Automatic, mit dem wir in den Sommermonaten einmal in der Woche einen Ausflug ins
schöne Berliner Umland unternehmen.
Diesmal rollten wir an wogenden Feldern, aus denen die Lerchen emporstiegen, an blühenden Sommergärten und dem Nauener Windradpark vorbei durch das schöne Havelland. In diesem Storchen-Eldorado
ließ sich im Dorfe Groß Behnitz, oberhalb des Behnitzer Sees, im Jahre 1800 ein Herr von Itzenplitz ein Herrenhaus errichten, das 1866 in den Besitz der Familie Borsig überging. An dieser
Stelle entwickelten sie einen agrarischen Musterbetrieb mit Ziegel- und Schnapsbrennerei, Schmiede, Stallungen, Arbeiterwohnhaus und ließen dort bis 1945 ca. 2700 ha Land bewirtschaften. Ihre
wohlverdiente Ruhe fanden sie vis à vis in der Familiengruft unterhalb der Groß Behnitzer Dorfkirche.
Im letzten Jahr ging ich mit einer kleinen Gruppe Seniorinnen regelmäßig, am letzten Sonntag des Monats, in eines der vielen Berliner Museen. Per Taxi wurden Sie von mir von einem Wilmersdorfer Stift abgeholt, wo sie im betreuten Wohnen recht aktiv ihren Lebensabend verbringen. Diesmal brachten uns zwei Großraumtaxen zur Gemäldegalerie am Kulturforum, wo ich von meiner Freundin und Kooperationspartnerin, Ulrike Fiedler, erwartet wurde. Sie hatte sich an diesem Sonntag bereit erklärt, mir als ehrenamtliche Assistentin behilflich zu sein, denn wir hatten Besonderes vor. Diesmal sollten meine Senioren von der Stimme des Schauspielers Daniel Brühl per Audioguide durch die Ausstellung der spanischen Barockmalerei „El siglo de Oro“ geführt werden.
Das Telefon klingelt. „Ich würde gern mal einen Kaffee mit Ihnen trinken. Wann hätten Sie denn Zeit für mich?“ Es ist der Direktor einer renommierten Senioren-Residenz in Hamburg, der mir gerade diese Frage gestellt hat. Am nächsten Tag sitzen wir bereits in der eleganten Bibliothek der Wohnanlage zusammen.
Herr H. muss heute das Bett hüten. So hat es ihm sein Arzt verordnet. Schon seit längerer Zeit leidet Herr H. an einem Dekubitus, das Sitzen im Rollstuhl ist bisweilen sehr schmerzhaft für ihn. Darum also die Bettruhe. Trotzdem besuche ich ihn. Nein, es muss heißen: Gerade deshalb besuche ich ihn.
Zweiter Januar 2017. Das neue Jahr fängt gut an. Herr L. benötigt dringend einen besseren Rasierapparat und möchte sich nachträglich selbst zu Weihnachten eine kleine Freude machen. Man sieht ihm die notwenige Rasur und die Vorfreude deutlich an.
Die Vorweihnachtszeit ist traditionell auch jene Zeit, um Dekorationen, Tannenbaumschmuck oder kleine Geschenke zu basteln. Die folgende Begebenheit schildert eine völlig andere Form „feinster Handarbeit“, die sich völlig unerwartet während eines Adventskonzertes entwickelte. Und das kam so:
Seit fast 2 Jahren besuche ich Herrn L. in einer Berliner Seniorenresidenz. Immer montags, pünktlich, um 15 Uhr, klopfe ich recht laut an seine Zimmertür. Herr L. ist stark schwerhörig und besitzt trotz der Hörgeräte nur noch 45 % seiner Hörstärke. Er empfängt mich gut gelaunt, ausgeschlafen nach der Mittagsruhe, rasiert und im sauberen Hemd in seinem Rollstuhl. Auch seine Mobilität ist stark eingeschränkt. So kann man von Glück sprechen, dass er seinen schönen, dunkelblauen Mercedes nicht abschaffte, der nun immer startklar vor der Tür der Einrichtung parkt.
Das starke Bedürfnis, sofort etwas essen zu müssen, setzt oft plötzlich und unerbittlich ein. Richtig: hier ist von Heißhunger die Rede. Wohl jeder von uns hat dieses Gefühl schon erlebt.
„Aus Berufung nah am Menschen“ lautet eine der Kernbotschaften für die Tätigkeit der Senioren-Assistenten. Doch wie weit kann und darf diese Nähe gehen, ohne Grenzen zu überschreiten?
Auch Senioren-Assistenten müssen sich von Zeit zu Zeit erholen und regenerieren. Doch was passiert währenddessen mit ihren Klienten? Fast immer können kollegiale Vertretungsregelungen untereinander arrangiert werden – mit manchmal ungeahnten Möglichkeiten!
Eine vertraute Person um sich zu haben, die die eigenen Vorlieben, Bedürfnisse sowie Defizite genau kennt, um darauf individuell einzugehen: genau das zeichnet qualifizierte Senioren-Assistenz aus. Selbst bei guter und einfühlsamer Vorbereitung im Vertretungsfall ändern sich natürlich diese „Rahmenbedingungen“ für die Beteiligten ein wenig. Aber das muss keineswegs ein Nachteil sein.
Seit Kurzem habe ich die Freude und Ehre, einer hochbetagten Dame Gesellschaft zu leisten, die in England – sorry: in Wales – geboren ist und lange Zeit in Südafrika gelebt hat. Später zog sie mit der Familie nach Deutschland. Doch nun kehrt sie mental und sprachlich mehr und mehr zu ihren Wurzeln zurück.
Senioren-Assistenz schließt als eigenständige Dienstleistung die Lücke zwischen Pflege und Haushaltsdiensten. Sie unterstützt damit die selbstbestimmte und aktive Teilhabe älterer Menschen am Leben, ganz nach ihren individuellen Wünschen, Interessen und Möglichkeiten.
Ein gutes und willkommenes Miteinander muss immer von zwei Seiten getragen werden. Nicht immer lässt sich diese Brücke schlagen. Für Angehörige, die es gut mit ihren Liebsten meinen, ist das oft nur schwer nachzuvollziehen.
Eine Verabschiedung mit den Worten „Lebe wohl!“ hat dem Ursprung nach eigentlich einen durch und durch frohen und positiven Kern. Doch oft genug verstehen wir ein Lebewohl auch als Abschied für immer.
Kürzlich war ich auf dem Weg in ein Seniorenheim, in dem ich zwei Bewohner regelmäßig besuche, aktiviere und begleite. Vor der Tür traf ich zufällig den Schwager von Herrn P. Wir kennen uns gut, denn ich war von der Familie u. a. schon zu seinen Geburtstagsfeiern sowie einem gemeinsamen Tagesausflug ins Alte Land bei Hamburg privat eingeladen worden.
Es war einer dieser extrem heißen und schwülen Tage des Sommers. Eine ältere Dame im Rollstuhl, die ich regelmäßig besuche, lassen derartige Umstände jedoch „völlig kalt“. „Raus, nur raus!“ ist ihre Devise. Doch bei Hitze ist natürlich allerlei (und noch viel mehr) zu beachten.
Menschen mit Demenz verändern im Verlauf der Krankheit ihre subjektive Wahrnehmung. Das erfordert auch für die Personen in ihrem Umfeld viel Empathie und Einfühlungsvermögen, um mit ihrem Leben Schritt zu halten. Dazu eine kleine, jedoch sehr „anschauliche“ Begebenheit.
Die enorme Bedeutung zwischenmenschlicher Unterstützung im Alter haben Mirjam Philippi, Christiane Luderer und Thomas Altenhöner näher untersucht. In ihrem ausführlichen Bericht, der 2015 im „Informationsdienst Altersfragen“ erschienen ist, finden sich zahlreiche Passagen, die die Idee qualifizierter Senioren-Assistenz nicht besser erklären und untermauern könnten.
Ich machte vor längerer Zeit Bekanntschaft mit einem Ehepaar, deren Mann sich aufopfernd um seine an Demenz leidende Frau kümmert und zeitweise Entlastung benötigt. Bei einem ausführlichen Vorgespräch hatte ich erfahren, dass seine Frau immer sehr kulturell interessiert war. Sie liebt u. a. klassische Musik, hatte früher Gedichte geschrieben bzw. Verse zu kleinen Gedichtbänden zusammengestellt. Doch das alles sei inzwischen nicht mehr möglich.
Seit langer Zeit betreue ich einen herzensguten und meist sehr froh gestimmten Herrn mit fortgeschrittener Alzheimer-Demenz. Die Begegnung mit ihm bekannten Menschen bereitet ihm stets allergrößte Freude. Ob unterwegs auf der Straße, auf dem Flur oder in den Gemeinschaftsräumen seiner Einrichtung: Sobald ein bekanntes Gesicht auftaucht, lebt er auf, geht auf die Person zu und beginnt – so gut es geht – ein kleines Schwätzchen.
Wenn der liebe lange Tag zu einem schrecklich lagen Tag wird: Mit diesem Leid haben nicht nur viele allein lebende Senioren zu kämpfen, die keine oder nur wenig Ansprache und Zuwendung erhalten. Es betrifft ebenso viele Ältere, die in Einrichtungen leben, die aber trotz dieser Wohnform nicht in dem für sie individuell erforderlichen Maße betreut und aktiviert werden können.
Stanislaw Jerzy Lec hat den charmanten Satz geprägt: „Das Tanzen ist die Kunst, wo die Beine denken, sie seien der Kopf.“
Immer wieder klagen pflegebedürftige Menschen darüber, dass ihnen zwar professionelle Pflege zuteil wird, jedoch für ein paar freundliche Worte oder gar ein kurzes Gespräch keine Zeit bleibt.